Mit dem Uropa spazieren gehen

Die Großelternkolumne

Die Geschichte ist allzu sentimental. Und während ich anfange, sie aufzuschreiben, sträubt sich die Feder. – Natürlich ist mein Computer gemeint. – Aber erzählen würde ich sie nicht, wenn sie sich nicht wirklich zugetragen hätte. So und nicht anders.

Viele Jahr war Freddy für alle ein treuer Begleiter, ein riesengroßer schwarzer Hund, freundlich und anschmiegsam, eines von den Tieren, das nie die Ruhe verlor und ärgerlich nach dem Herrchen oder nach den Kindern schnappte. Die Zeit verging. Die Kinder und Enkel wuchsen heran, und Freddy wurde alt und älter. So alt, dass die Großeltern am Abend, als es im Haus ruhig geworden waren, mit feuchten Augen bei einem Glas Wein saßen und sich die Frage stellten, wie es nun weitergehen sollte. Freddy quälte sich und litt unter Schmerzen.

Wer den Satz gesagt hatte, wusste später niemand mehr. Vielleicht hatten sich auch beide so geäußert, weil der Gedanke längst in der Luft lag: „Daran führt wohl kein Weg vorbei: Wir werden ihn einschläfern lassen müssen.“ Endlose, sprachlose Stille, Tränen auch in Opas Augen. Geweint hatten beide zum letzten Mal, als ihr Vater bzw. Schwiegervater zu Grabe getragen worden war.

Die Eltern des knapp sechsjährigen Enkels Mike wurden eingeweiht und begriffen rasch. Auch hier gab es Tränen und eine verbissene Stummheit. Man ging sich aus dem Weg. Und so war niemand da, als Opa eines Morgens, viel zu früh, mit Freddy in die Tierklinik fuhr. Mike hatte den Verlust augenblicklich bemerkt. Er suchte und rief, ging in den Garten hinaus und umrundete das Haus, blickt über die Ligusterhecke und die Natursteinmauer auf die benachbarten Gartengrundstücke. Freddy war nicht aufzufinden. Die Mutter konnte dem Jungen die Wahrheit nicht sagen. Ihr Mann war vorzeitig in sein Büro entflohen. Oma und Opa standen ratlos da und sahen sich mit fragenden, aber vielsagenden Blicken an: „Es muss aber sein. Unbedingt.“

Opa atmete tief und entschlossen, ging in den Garten hinaus und fasste Mike fest an der Schulter: „Du, wir müssen es dir sagen: Freddy lebt nicht mehr. Weißt du: Er war alt und krank und musste große Schmerzen ertragen. Viel zu große … Ich hoffe, wir hoffen, dass du das verstehst …“ Mike hatte verstanden. Er weinte, weinte einen halben Tag lang, mal laut, mal verhalten und in sich gekehrt. Fürs Erste hatten die Oma und die Mama versucht, ihn zu trösten. Dann überließen sie ihn seiner Trauer: Alles wird wieder gut werden! Nein, fromm waren sie alle nicht. Beim Mittagessen wurde nicht gebetet, und die freien Plätze in der Kirche überließen sie gern anderen. Mag sein, dass dennoch irgendjemand – vielleicht aus Verlegenheit – einmal erzählt hatte, dass es dem Uropa, der zwei Jahre zuvor gestorben war, nun gut gehe. „Da müssen wir nicht mehr traurig sein. Wirklich nicht!“

Als Mike endlich aufgehört hatte zu weinen, tat er einen tiefen Seufzer, ganz tief, und schaute dann in die Runde. Alle warteten darauf, ob er irgendetwas sagen würde. „Wenn Freddy tot ist, dann kann er da …“ – Er wies mit seinem kleinen Zeigefinger nach oben. – „… dann kann er da ja mit Uropa spazieren gehen. So wie früher.“ Die Eltern und die Großeltern blickten einander verblüfft an. Der Papa lachte überrascht und verlegen. Die Mama weinte in ihr Taschentuch. Opa und Oma nickten zufrieden und lächelten versonnen: Ja, der Opa wird mit seinem lieben Freddy spazieren gehen. So wie viele Jahre lang zuvor. Und alles wird so sein wie damals!

Kurt Schreiner war mehr als 50 Jahre mit seiner Frau verheiratet. Er hat zwei Kinder und wohnt in Öhringen.