Hineingefordert

In letzter Zeit schreibe ich immer öfter Postkarten oder andere Nachrichten, mit denen ich den Empfängern irgendwie Mut oder Trost oder Hoffnung schenken möchte. Vielleicht liegt das am Alter, vielleicht an den Umständen, vielleicht an etwas ganz anderem. Und in diesen Nachrichten verwende ich gern die allgemeine Formulierung „bei allen Herausforderungen, die Dich gerade umtreiben“ oder so ähnlich. Auf jeden Fall kommt das Wort Herausforderung darin vor.

Aus was soll ich heraus?

Ich mag das Wort eigentlich bzw. mochte ich es – bis ich aus irgendeinem Grund neulich anfing, darüber nachzudenken. Was soll das eigentlich bedeuten: „ich bin herausgefordert“?
Aus was denn? Neudeutsch würde man sicherlich jetzt sofort denken: na ja, eben aus der „Komfortzone“. Auch so ein Wort, das beim Bedenken schwierig wird. Als würde ich den ganzen Tag in einem kuscheligen Sessel sitzen und müsste mich jetzt mal erheben. Herausforderungen sind für mich etwas heftiger. Sie fordern mich. Sie fordern meine Kraft, meinen Mut, meine Geduld usw. Also ich bin gefordert. Damit bin ich ja ganz einverstanden. Aber aus was denn „heraus“? Aus meinem Leben, das ich gerade führe? So empfinde ich das meistens nicht.
Mancher würde vielleicht sagen: Ich bin herausgefordert zu einem Kampf. Das Leben kann viele Kämpfe bieten, mit Umständen und Menschen. Kämpfe um Gerechtigkeit, Freiheit, Macht usw. Aber ich merke immer wieder, dass ich dafür nicht geeignet bin. Ich bin keine Kämpferin. Jedes Mal, wenn ich in Kampfhandlungen verstrickt werde oder mich in einer Verteidigungshaltung wieder finde, dann tut mir das nicht gut, was ich da gerade versuche. Was ist dann meine Aufgabe, wenn ich gefordert bin von meinen Lebensumständen? Was mache ich mit diesen Anforderungen?

Hinein ins Leben

Je länger ich darüber nachdenke, desto schlüssiger wird für mich eine andere Formulierung: Ich werde hineingefordert. Ich soll mich da hineinbegeben, in dieses Leben, in diesen Tag, in diese Situation. Ich soll mich mit meinem ganzen Dasein in diese Situation begeben. Und ich soll nicht flüchten und nicht kämpfen oder nach etwas anderem suchen oder mich aus den Umständen „heraus-denken“.
Mich hineinbegeben in das Leben in seiner ganzen Fülle: Das macht manchmal viel Mühe und entspricht häufig nicht dem, wonach mir gerade ist. Auf diesem Weg ins Leben entdecke ich mich selbst mehr und mehr – erstaunlicherweise gibt es dafür weiterhin Bedarf. Man sollte doch denken, dass ein gewisses Alter nun genügend Selbsterkenntnis hervorgebracht hätte. Aber in der Seele gibt es immer noch etwas zu entdecken. Ich fühle mich oft aufgefordert, mich in meine Seele hineinzubegeben. Und dort, so heißt es, könne man dem ganz Anderen begegnen.
Ich bin immer noch dabei, diesen Weg für mich zu entdecken. Das Herausgehen aus Situationen und auch aus mir selbst ist mir viel geläufiger und scheint einfacher zu sein. Aber es bringt auf Dauer keinen Gewinn. Also werde ich weiter üben und mich hineinfordern lassen: vom Leben, von mir selbst und von Gott. Ich hoffe, dass ich die Anforderungen und Aufforderungen, die mir begegnen, annehmen kann. Ich erwarte mit einer gewissen Zuversicht, dass sie mich weiter und tiefer führen in ein Leben in Weisheit, Wahrheit und Freiheit. Dabei auch immer öfter und tiefer Gott zu begegnen wäre ein wunderbares Geschenk. Vielleicht gelingt es mir dann auch hin und wieder, an meine Mitmenschen etwas davon weiterzugeben.

Dieser Text von Ursula Hauer stammt aus LebensLauf 3/23.