„Sie hätten es ohne Babyklappe nicht geschafft“

Im Jahr 2000 richtete das Krankenhaus „Waldfriede“ in Berlin die erste Klinik-Babyklappe ein – weltweit. Treibende Kraft war
die Krankenhausseelsorgerin und freikirchliche Pastorin Gabriele Stangl. Mehr als 250 Kindern hat sie auf diesem Weg das Leben ermöglicht. Mit Jörg Podworny und Sofia Löwen hat sie über ihre „Herzenskinder“ gesprochen.

Frau Stangl, was hat bei Ihnen zu dem Entschluss geführt, die Babyklappe einzurichten?
Gabriele Stangl: Ein alter Diakon kam zu mir, mit einer jungen Frau, hochschwanger, die nicht wusste, wie sie das Kind auf die Welt bringen soll. Sie war unter Vortäuschung falscher Tatsachen in Deutschland, musste in der Prostitution arbeiten. Wir durften ihr nicht helfen. Das hat mich so bedrückt, dass ich gedacht habe: Jetzt muss ich was tun! Dann hörte ich vom Sternipark, einer ähnlichen Einrichtung in Hamburg – und dachte: Das ist doch eine Möglichkeit! Die Babyklappe ist eine Einrichtung, die es im Mittelalter schon gegeben hat. Wir haben über dieses Sprungbrett versucht, schwangeren Frauen
zu helfen, dass sie einen Ort der Sicherheit haben, an dem sie ihr Kind abgeben können.

Welche Hürden mussten Sie nehmen?
Man ist davon ausgegangen, dass ich es den Müttern zu leicht machen würde, ihr Kind abzugeben. Dann gab es viel Schreibarbeit an die Ämter und Ministerien. Aber alle haben grünes Licht gegeben. Wir haben das Projekt ein bisschen blauäugig gestartet – und sind Schritt für Schritt daran gewachsen.

Wer hat Sie unterstützt?
Der größte Unterstützer war Dr. Siegbert Heck, damals Leiter der gynäkologischen Abteilung und ärztlicher Direktor des Krankenhauses. Er sagte: Okay, schaden kann es nicht, wenn wir’s probieren. Der zweite große Unterstützer war die Adoptionsvermittlungsstelle; die „Jedes Kind ist mein Lieblingskind, ist auch besonders, einzigartig für sich.“ Menschen dort haben wirklich fürs Kind gearbeitet. Überhaupt haben wir in Berlin viel Unterstützung bekommen – aber auch Angriffe. Ich würde seelische Krüppel mit Depressionen, Psychosen und Neurosen heranziehen, die Kinder würden nie die Füße auf den Boden bekommen … Aber gehen Sie mal durch Berlin und schauen den Leuten ins Gesicht. Wie viele von ihnen sind seelisch krank – aber garantiert nicht alle in der Babyklappe gewesen!

Aus Ihrer Sicht: Was wäre, wenn … es die Klappen nicht gäbe?
Die Kinder bei uns waren oft in einem schlechten körperlichen Zustand: unterkühlt, zu früh geboren; die kleine Luisa wog nur 1,45 Kilo; ein Baby war in Zeitungspapier gewickelt, noch voller Fruchtwasser, die Mutter muss es unmittelbar zuvor geboren haben … Sie alle hätten es ohne Babyklappe nicht geschafft!

Sie haben zu Beginn Ihrer Arbeit anders gehandelt als gesetzlich vorgesehen: War die rechtliche Lage aus Ihrer Sicht nicht lebenstauglich?
Artikel 7 der UN–Kinderrechtskonvention sieht vor: „Das Kind hat soweit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.“ Hier steht: soweit möglich. Es gibt also Fälle, in denen es nicht möglich ist, die Eltern zu kennen, wir das Leben aber zu schützen haben. Diese Verpflichtung haben wir alle, auch der Staat.

Wir haben schon bei der Pressekonferenz zur Eröffnung des Projekts gesagt: Wir werden den Frauen auch die anonyme Geburt ermöglichen. Denn: Seien wir ehrlich – die Babyklappe hilft dem Kind, nicht aber der Mutter. Man muss aber beiden helfen. Ein Resultat ist ja auch, dass von den zuvor anonymen Geburten 90 Prozent nicht anonym geblieben sind.

Für die Mütter haben Sie schöne Namen gefunden: Bauchmamas und Herzensmamas. Wer sind die Klappen-Mütter?
Kurz gesagt, bei uns sind Frauen im Alter zwischen 14 und 44 Jahren gewesen, meist keine Erstgebärenden, zum größten Teil alleinerziehend, aus allen sozialen Schichten, mit allen möglichen Bildungsgraden. Gemeinsam ist diesen Frauen: Alle haben Angst und Scham und fühlen sich in für sie ausweglosen Situationen. Und eine ausweglose Situation ist immer subjektiv. Die allermeisten hatten finanzielle Gründe, ihr Kind nicht behalten zu können. Und wir wissen, dass das heute nicht ohne ist!
Jeder Cent ist wichtig. Die Babyklappen werden heute mehr denn je gebraucht; und auch die Möglichkeit, anonym zu entbinden, wenn es sein muss.

Und was charakterisiert die Herzensmamas?
Sie sind genauso Mamas wie die Bauchmamas. Sie müssen in der Regel mindestens ein Jahr warten, bis sie ein Kind bekommen. Deren Liebe wächst schon vorher in ihrer Seele. Sie schließen das Kind sofort ins Herz. Da gibt es keinen Unterschied zwischen einer biologischen und einer Herzensmama.

Wissen Sie, wie vielen Kindern und Müttern Sie Leben ermöglicht haben?
Bei uns waren es über 250 Frauen. Ungefähr 30 Prozent der Babys sind nach der Geburt bei den Müttern geblieben, die anderen alle in eine Adoptivfamilie gekommen. Bei uns kamen auf jedes Kind 20 Elternpaare, die es gern adoptiert hätten. Viele Paare können keine Kinder bekommen und würden gern eins aufnehmen. Diese Kinder müssen nicht ins Heim.

Wie fühlt es sich an, wenn Sie die Kinder nach ein paar Jahren wiedersehen?
Das ist toll (lacht). Und jedes Mal eine Freude. Diese Kinder sind auch meine Herzenskinder. Und es sind absolut erwünschte Kinder.

Wie gut lassen sich Kontakte aufrechterhalten?
Das ist sehr unterschiedlich. Zu manchen habe ich Kontakt, aber das muss immer von ihnen ausgehen. Auch wenn z.B. Frauen sagen, ich muss das abschließen, ich muss mein Leben leben, dann ist das in Ordnung. Aber sie wissen, sie können jederzeit auf mich zukommen. Einer Frau, die vergewaltigt wurde, habe ich geschrieben: wie sehr ich sie bewundere für das, was sie getan hat, dass sie dem Kind eine Chance gegeben hat zu leben.

Laut Aussage einer Adoptivmutter bin ich für viele so eine Art Patentante. Ich habe keine eigenen Kinder, aber ein paar hundert andere! (lacht) Was bin ich froh, dass ich nicht jedem ein Geburtstagsgeschenk kaufen muss.

Haben Sie denn Lieblingskinder?
Nein. Jedes Kind ist mein Lieblingskind, ist auch besonders, einzigartig für sich.

Was treibt Sie persönlich an, was stärkt Sie?
Mich stärkt mein Glaube. Ich habe Gott erfahren und ich lebe in einer Beziehung mit ihm. Diese Beziehung stärkt mich. Und gerade diese Arbeit hat mir gezeigt, wie nah mir Gott ist.

Wo gibt es heute überall Klinik-Babyklappen?
Klinik-Babyklappen gibt es auf fast allen Kontinenten. Es müsste aber an jedem Krankenhaus dieser Welt die Möglichkeit geben, einer Frau in den Stunden der Geburt zur Seite zu stehen – ohne zu fragen: warum, wieso, weshalb?

Das Verständnis ist heute ganz anders. Als vor kurzem in Rosenheim ein Baby ausgesetzt in einem Hof gefunden wurde – da hat die ganze Stadt aufbegehrt: Wann endlich bekommen wir unsere Babyklappe?! Das sollte Usus sein. Wenn wir sie nicht brauchen – wunderbar! Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass wir mit dem Hilfsangebot alle Frauen in Not erreichen. Aber jedes Leben zählt!

Woran liegt es denn, dass es noch nicht an jedem Krankenhaus eine Babyklappe gibt?
Man muss sich durch viel Bürokratie und Vorurteile hindurchbeißen. Es wird einem nicht einfach gemacht. Und es braucht immer Leute, die gut geschult sind und eine gute Verbindung zu Frauen, zu den Ämtern haben. Dann ist es immer noch eine rechtliche Grauzone. Manche haben Angst, dass sie etwas machen, wofür sie bestraft werden. Aber das ist bei uns im Krankenhaus in 23 Jahren nie passiert.

Sie schreiben „Es würde etwas auf dieser Welt fehlen, wenn es dieses Kind nicht gäbe…“ Ist diese Haltung weit verbreitet?
In Deutschland haben wir das Problem, dass Kinder zum Teil keine Lobby haben und viel
Schlimmes mit ihnen geschieht. Wir müssen daran denken, dass Kinder unsere Zukunft sind! Ich muss ihnen solide Grundlagen geben. Da mangelt es bei uns an vielen Stellen.

Wenn Sie gesetzgebende Kraft hätten: Wofür würden Sie sich stark machen?
Dass jedes Kind das Anrecht hat, liebevoll, mit Wahrheit und Zugang zu guter Erziehung und Ausbildung aufzuwachsen. Dort, wo das von Haus aus nicht möglich ist, sollte der Staat mit eingreifen und es dem Kind zugänglich machen. Auch eine gute Ausbildung ist Liebe und hilft, auf eigenen Beinen zu stehen und den eigenen Wert in der Gesellschaft mit einzubringen.

Wir hoffen, dass auch unser Gespräch dazu beitragen kann. Vielen Dank!

Sie können die ganze Geschichte nachlesen in „Herzenskinder“ (Gabriele Stangl, adeo Verlag).

Für Frauen, die Hilfe suchen: www.sternipark.de | Hilferufnummer (rund um die Uhr besetzt): 0800 456 0789