Die Natur ist nicht still

Wir machten Urlaub in den Bergen von Kreta, entfernt vom Tourismus, abseits eines kleinen Dorfes und gefühlt mittendrin in der Wildnis der Berge. Ungewohnt, selbst für jemanden, der aus einem eher ländlichen Bereich Deutschlands kommt. Mein Mann stellt beim ersten morgendlichen Erwachen fest: „Man hört hier nirgends ein Motorengeräusch!“ Recht hat er: Keine Fabrik, selten ein Auto, allerseltenst ein Flugzeug. Ich nicke zustimmend und denke: Ja, hier ist es mal so richtig still!
Nach einigen Tagen ziehe ich mich in ein Baumhaus zurück, von dem aus sich mir ein weiter Blick auf die erhabene Bergwelt bietet und genieße die Stille. Um in ihr festzustellen: Die Natur ist nicht still!

Unbekannte Geräusche

Aus der tiefen Schlucht lässt sich der rauschende Bach hören. Erst jetzt wird mir bewusst, dass sein Geräusch rund um die Uhr präsent ist. Vielleicht war meine Wahrnehmung
bisher nur auf die Geräusche meines kleinstädtischen Lebensraumes ausgerichtet. Hier nehme ich Laute wahr, die meine Ohren von daheim nicht kennen oder nur sehr selten vernehmen. Zum Soundtrack der Berge gehören das Glockengeläut der Schafe und Ziegen, die hier oben weiden, und ihr Blöken. Ein starker Wind fegt ablandig durch die Schlucht. Er bewegt die Bäume so heftig, dass „die Berge rauschen“, so als würde es kräftig regnen (frei nach Psalm 89,13: Die Berge und Gebirge jubeln dir zu). Und verschiedenste Vögel, die ich nicht benennen kann, singen oder verständigen sich mit Lauten, die mir unbekannt sind.
Und dann gibt es in diesem Urlaub noch eine echt lustige Verwechslung: Im Schlaf habe ich schon seit Langem immer wieder Atemaussetzer. Deshalb muss ich auch auf Reisen ein CPAP-Gerät benutzen, das den Atemwegsdruck konstant hält, und mit einer Maske schlafen. Als ich beim Zubettgehen die Maske auf die Nase setze, höre ich das Gerät plötzlich in regelmäßigen Abständen fiepsen. Ich kontrolliere alles, was daran locker oder defekt sein könnte, bleibe aber ratlos. Nächster Abend – dasselbe Problem. Als ich am dritten Abend meinem Mann meine Ratlosigkeit klage, öffnet dieser das einfach verglaste Fenster und meint, völlig entspannt: „Das kommt von draußen, hörsse das denn nich? Das iss’n Vogel, vielleicht ’ne Art Käuzchen oder so!“
„Tja, so viel zum Thema: Der urbane Mensch in der Wildnis!“, lache ich über mich. „Mit einem brummenden medizinischen Gerät kann ich schlafen. Das Fiepen eines
Vogels hingegen irritiert mich. Verkehrte Welt!“ Zum Lachen gesellt sich der Wunsch: Ich will bewusster hinhören!

Das Lied des Meeres

Als wir schließlich einen Ausflug zum Meer machen, bin ich schon aufs Hinhorchen eingestimmt und nehme wahr, was die Natur mir dort zu Gehör bringt. Es ist ein stürmischer Tag an einem Strand mit schönen straußeneigroßen Steinen. Die Wellen reißen immer wieder Steine mit sich und lassen sie wie in einer Wäschetrommel herumwirbeln, um sie dann wieder an Land zu spucken. Dieses Unterwasser-Gepolter klingt wie ein gurgelndes „Rrorrah!“ Hier höre ich sie zum ersten Mal: Die „Stimme der Steine“, vom Meer rund gerollt. Und auch das peitschende Prasseln und Klatschen der Wellen, die sich am Kai und der Küstenbefestigung brechen, gehören zum Lied, welches das Meer an diesem Tag kraftvoll intoniert (Psalm 93,3: Die Fluten der Meere toben und tosen, sie brüllen ihr mächtiges Lied).
Es scheint mir, als würde die Natur immer wieder neue Melodien komponieren. So, als hätte alles in der Pflanzen- und Tierwelt und auch jede Welle, jeder Stein, seine eigene Stimme, sein Geräusch. Und alle zusammen ergeben eine Sinfonie, der ich erstaunt lausche. Poetische und bildhafte Texte der Bibel treten in meine Erinnerung, in denen von Bäumen, die in die Hände klatschen, erzählt wird und von Bergen, die jubeln (Jesaja 55,12). Oder auch davon, dass alles im Meer Gott loben soll (Psalm 148).
Ich habe diese Sprache bisher immer für etwas übertrieben gehalten. Jetzt denke ich: Die Erlebniswelt der Menschen in biblischen Zeiten war eine völlig andere als meine heutige. Sie waren der Natur und ihren Stimmen viel näher und hatten daher einen selbstverständlichen Zugang, ein Verständnis für diese Texte. Hier, auf Kreta, näher an der Ursprünglichkeit der Natur, erahne ich – hinhörend – den Sinn dieser biblischen Worte.

Natur und Techno

Mit dem Flieger zurück in das Land der Autos, Rasenmäher, Laubsauger, Schnellstraßen und Fabriken, wo es selbst in der Nacht weder richtig dunkel noch leise wird, denke ich dankbar an die Natursinfonie zurück: Es geschieht so unendlich viel mehr in der Natur, als wir urbanen Menschen es erleben, hören, spüren … Und es ist Klang und Musik in allen Dingen (Psalm 65,10)! Es macht Spaß – mit etwas geschärftem Bewusstsein – hinzuhören. Diesen Genuss will ich mir ab jetzt öfter gönnen und in den frühen Morgenstunden oder am Ende des Tages ins Freie lauschen.
Denn auch das städtische Leben ist voller Klang und Musik. Die Taktgeber sind hier aber oft die Motoren. Sagen wir’s mit Humor: „Bei uns is‘ halt nen bisken Techno zwischen de Naturinstrumente. Aber das rockt auch, oder?“

Dieser Text von Christine Schlagner stammt aus LebensLauf 3/23.