Zu groß für sein Alter

Die Großeltern-Kolumne

Viele Großeltern haben auch so einen Enkel: Groß und zu kräftig für sein Alter und deshalb immer in Gefahr, überschätzt zu werden. Bei uns ist es bei Gabriel so. Seine Mutter kann noch heute sagen: Unser Gabriel war nie richtig klein. Immerhin wog er bei seiner Geburt über 8 Pfund und konnte gleich sein Köpfchen halten und drehen.

Groß und kräftig ist er bis heute. Daher traut man ihm nicht seine empfindliche zarte Seele zu. Die kam zum ersten Mal beim Krabbeln zum Vorschein. Erde und Sand mochte der kleine Kerl nicht an den Händen. So krabbelte er auf den Ellbogen weiter. Schlimmer war es, dass er keine Menschenansammlung mochte. Als ich ihn einmal im Sportwagen stolz durch unsere kleine betuliche Kreisstadt fuhr, weinte er bloß. Ein unbekannter Mann traf uns nach einer Stunde wieder und fragte erstaunt: Weint er noch immer oder schon wieder? Wie gut, dass er die Antwort nicht abwartete.

Dass er in den Kindergarten geht, verdanken wir den liebevollen Erzieherinnen. Der Schock kam erst beim Erntedankgottesdienst. Stolz zog er an der Hand der älteren Schwester in die Kirche ein, doch als er sich umdrehte und die vollen Bänke sah, weinte er sofort erschrocken los. Erst auf dem Schoß des Vaters beruhigte er sich langsam.

Er reagiert oft so unerwartete auf seine Umgebung. Dann kann man ihn leicht als schwierig abstempeln, wenn man nur auf seine Größe sieht. Anderseits kann keiner so reizende Bemerkungen machen wie er. „Hier sieht es aber schön aus“, konnte er als Dreijähriger sagen, weil er die Blumen auf meinem Tisch sah. Oder als der Opa mit ihm ein Schwimmbad besuchte und sich kritisch im Spiegel betrachtete, sagte er „Ich find, du siehst schön aus!“

Einmal fuhr ich 200 km entfernt in die Klinik, wo unser Sohn Benjamin arbeitete, um abzuklären zu lassen, warum mein hartnäckiger Husten nicht aufhörte. Da wir erst spät in der Nacht heimkamen, lag ich noch im Bett, als mein Mann ihn zum Kindergarten bringen wollte. Doch er schlüpfte an ihm vorbei in unser Haus, stapfte die Treppe hoch, bepackt mit Kindergartentasche und Matschhose, mit dicken Winterstiefeln, zum Schlafzimmer. Als ich die Augen öffnete, beugte er sich zu mir runter und fragte mitfühlend: „Was hat der Dr. Benjamin gesagt?“

Gabriel lehrt mich immer wieder: Nicht auf die äußere Erscheinung, sondern auf den inneren Kern kommt es an. Und den sollten wir als Großeltern entdecken.

Monika Ramsayer (Jahrgang 1949) wohnt in Königsbronn, ist Religionslehrerin im Ruhestand, verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und ist begeisterte Großmama.