Tolle Knolle

„Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist!“ – Psalm 34,9

Warum Christine Schlagner sich an ihren Vater erinnert, wenn sie besonders geformte Kartoffeln sieht. Und auch an ihren himmlischen Vater.

Ich bin in Westfalen in einer Familie von „Malochern“ aufgewachsen. So nennt man hier Menschen, die häufig schwere körperliche Arbeiten verrichten. Diese Herkunft hatte nicht nur auf meine Denke und Sprache Auswirkungen, sondern auch auf meine kulinarischen Vorlieben. Meine erste bewusste Erinnerung an ein Mittagessen ist diese: Ein großer Topf mit dampfenden Salzkartoffeln steht auf dem Küchentisch und daneben Mamas größte blaue Schüssel, die bis knapp über den Rand gefüllt ist mit Endiviensalat.

Wer denkt: „Ist das alles?“, dem sei gesagt: Diese Speise reichte als Mittagessen an einem gewöhnlichen Wochentag völlig aus. Außerdem war Mamas Salatsoße große klasse. Frisch gepresste Zitrone, Kondensmilch, Salz, Zucker, Pfeffer, und um das etwas Bittere des Endiviensalates zu nehmen, mengte sie noch zu Brei gestampfte Kartoffeln hinein. Bis heute liebe ich es, zum krönenden Abschluss einer Mahlzeit meine letzte Kartoffel mit einen Rest der Salatsoße zu vermengen. Das schmeckt und fühlt sich gut an!

Zentnerweise eingekellert

Ich wurde geboren, als Tiefkühlschränke und mit ihnen die Backofen-Kroketten noch nicht in die Haushalte Einzug gehalten hatten. Ja sogar bevor es in unserem Ort eine Pommesbude gab! Eine Zeit, in der Mama das ganze Jahr über Rabattmarken in ein Heft klebte und diese bis zum Herbst ansparte, um damit einen Teil der Einkellerungskartoffeln zu kaufen.

Das waren für uns die guten Hansa, festkochend und zentnerweise! Ein Vorrat, der bis Anfang Mai des nächsten Jahres reichen musste. Die Knollen wurden säckeweise in den kalten Keller geschleppt und füllten eine große hölzerne Kiste. „Omma“ Gretes Kommentar dazu lautete: „Kartoffeln und Kohlen musse im Keller haben, damitte gut übern Winter komms.“ Ja, stimmt! Unsere Kohlen, Briketts und das Anmachholz wohnten gleich im Keller nebenan.

Kartoffeln standen in allen Variationen auf unserem Speiseplan: Kartoffelbrei, Reibeplätzchen, „Pellemänner“ (Pellkartoffeln), Bratkartoffeln, Salzkartoffeln als Sättigungsbeilage und natürlich schwammen sie munter und zahlreich in jeder Suppe. Aus meiner Sicht war es für die Erdlinge aber die größte Ehre, wenn sie für einen Sommerausflug, den Heiligabend und den Neujahrsmorgen zu Kartoffelsalat verarbeitet wurden!

So spielte die Kartoffel als wandlungsfähiges Gemüse in meiner Kindheit die Hauptrolle, ähnlich wie es vielleicht die Spätzle für Kinder in Schwaben taten. Ich hörte Mama schimpfen, wenn die Qualität der Kartoffeln zu wünschen übrig ließ. Vernahm ihr Klagen über gestiegene Preise wegen schlechter Ernte und sah, wie ihre Hände flink mit dem Sparschäler hantierten

Papas Überraschungen

Manchmal hatten die Erdäpfel, oder „Errappel“, wie mein Vater sie nannte, eigenwillige Formen: etwa eine Knolle mit einer kleinen Kugel obenauf, die so aussah wie ein dickes Männlein. So etwas regte meine Phantasie an. Erwischte mein Vater solch eine ausgefallen aussehende Kartoffel, so schälte er sie sehr sorgsam mit Sparschäler und Hümmelchen, einem kleinen Schälmesserchen. Er
zerschnitt die Kartoffel nicht vor dem Kochen, wie alle anderen, sondern überraschte mich damit, indem er mir das Knollenmännlein beim Mittagstisch als erstes und in Gänze auf meinen Teller legte.

Papa genoss meine Freude. Es kostete mich dann auch jedes Mal Überwindung, diese Spezialkartoffel aufzufuttern. Aber wenn ich es schließlich tat, dann schmeckte und verinnerlichte ich Papas Zuneigung für mich. Einmal proklamierte Papa: „Heute gibt’s was ganz Besonderes!“ Er servierte mir eine Kartoffel in Herzform. Das sagte doch wohl alles, oder?

Mamas und Papas Liebe ging durch den Magen. Und das auch oder vielleicht gerade deshalb, weil mein Vater während des Krieges als Kind Hunger gelitten hatte. Das fand ich erst als Erwachsene heraus. Er hätte mein kindliches Gemüt nie damit beschwert. Heute, viele Jahrzehnte später, halte ich unverhofft eine Herzchenkartoffel in der Hand und da ist ja wohl klar, an wen ich denke! Die Erinnerung an Papas Freude, mich zu überraschen, bringt jetzt noch ein Lächeln auf mein Gesicht. Er war ein guter Vater, der es mir leicht gemacht hat, an den großen, guten Vater-Gott zu glauben.

Gottes liebevolle Zuneigung

Auch mein Vater-Gott hat mich schon oft liebevoll überrascht – und ich meinte, ihn dabei freundlich lächeln zu sehen. Auch er servierte mir – im übertragenen Sinn – manch eine „Kartoffel in Herzform“. Gott schenkt mir seine liebevolle Zuneigung. Ich darf hören, sehen, riechen, fühlen, schmecken und verinnerlichen, dass er mich persönlich liebt. Mit diesem liebenden Vater-Gott der mir wohl will und mein Lachen genießt, möchte ich vertrauensvoll in mein Leben gehen. Genau so wie damals an der Hand meines Papas.

Wenn ich das nächste Mal zum krönenden Abschluss einer Mahlzeit meine letzte Kartoffel mit einem Rest der Salatsoße vermenge, will ich mich daran erinnern. Denn das schmeckt – und fühlt sich immer wieder gut an!

„Wenn nun ihr euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben denen, die ihn bitten!“ – Matthäus 7,11

Christine Schlagner ist freie Autorin und lebt in Neuenrade (Nordrhein-Westfalen).