Kein unbeschriebenes Blatt

Das Keramikschälchen hat bereits mehrere Macken. Schön sieht es nicht mehr aus, andere hätten es längst weggeworfen. Für mich kommt das allerdings nicht in Frage – schließlich erfüllt es noch seinen Zweck!

Dass ich auf die Frage „Kann das weg?“ meistens mit einem empörten „Nein!“ antworte, ist kein Wunder: In meinem Elternhaus landete nichts im Abfall, was sich noch irgendwie verwenden ließ. Lange, bevor ich den Begriff „Nachhaltigkeit“ kannte, erlebte ich, wie meine Mutter zerschlissene Baumwolllaken zu Geschirrtüchern verarbeitete, diese nach einer Weile zu Putzlappen degradierte und das, was davon übrig blieb, schließlich auf dem Komposthaufen entsorgte. Und im Hobbykeller meines Vater konnte ich jede Menge spannender Utensilien entdecken, zum Beispiel Filzstift-Kappen, die Federn ausrangierter Kugelschreiber, Gürtelschnallen und Eisstiele: Früher oder später erhielten diese Dinge eine Aufgabe, für die sie ganz und gar nicht vorgesehen waren. Was die Zweitverwertung von Alltagsgegenständen angeht, war mein Vater offenbar seiner Zeit voraus: Heute findet man dafür im Internet viele Tipps (unter dem Stichwort „Life Hacks“).

Mit zunehmendem Alter entdeckt wohl jeder an sich eine Gewohnheit, eine Einstellung oder eine Redewendung seiner Eltern. Manches davon ist amüsant, anderes stimmt uns dankbar – aber es gibt auch problematische „Erbstücke“. Und natürlich werden wir nicht nur durch unsere Eltern geprägt. Es ist gut, sich mit diesen Lebensspuren auseinanderzusetzen – auch um selbst gute Spuren zu hinterlassen. Anregungen dazu geben die Artikel des Themenschwerpunkts in der September/Oktober-Ausgabe von LebensLauf.

Herausfordernde Lesestunden wünscht

Ihre Agnes Wedell
Redaktion LebensLauf