Verpasst!

Die Großeltern-Kolumne

Die letzte Abi-Klausur war geschrieben. Nun konnte Lea ihren Rucksack packen. Für fünf Tage konnte sie uns auf Teneriffa besuchen. Es war eine herrliche Zeit mit vielen Eindrücken, Abenteuern und Fröhlichkeit. Die Zeit hat sich gelohnt. Wir haben sie in vollen Zügen genossen.

Dann kam der letzte Tag, der Abschied. Wir standen um vier Uhr auf, um pünktlich um 5.30 Uhr am Flughafen zu sein. Um 7 Uhr sollte sie in die Lüfte starten. Da rief Lea noch halb schlaftrunken aus ihrem Zimmer heraus: „Ich habe eine Nachricht von der Fluggesellschaft bekommen. Die Maschine aus Barcelona kommt nicht pünktlich in Tenerife-Norte an.“
Was wird das für Folgen haben? Wird Lea den Anschlussflug in Barcelona nach Stuttgart noch erreichen?

Gemeinsam wollten wir uns dann am Flughafen bei der Auskunft erkundigen. Der Mitarbeiter konnte keine Angaben machen. Er sagte nur, wenn alle Stricke reißen und in der einzigen Maschine, die abends noch nach Stuttgart fliegt, kein freier Platz mehr zur Verfügung steht, bezahlt die Fluggesellschaft eine Hotelübernachtung in Barcelona.

So warteten wir, tranken einen Kaffee und warteten weiter. Um 8 Uhr schließlich verabschiedeten wir uns von unserer Enkeltochter, bevor sie in den Sicherheitsbereich ging. Wir umarmten uns. „Lea, wir beten für dich!“ „Ich weiß, dass Gott bei mir ist“, war ihre Antwort. Loslassen ist selten ein Kinderspiel. Aber eine Enkeltochter in die Ungewissheit loszulassen, das hätte ich mir ohne Gebet (Kontakt mit Gott) und Handy (Kontakt mit Lea) nicht vorstellen können.

Und so ging es weiter: Ihre Maschine startete in Tenerife Norte um 9.37 Uhr. Der Anschlussflug in Barcelona war längst auf dem Weg nach Stuttgart. Im Flughafen Barcelona musste Lea 5 Stunden warten, bis sie die erlösende Nachricht am Schalter erhielt: Sie bekam einen Platz in der einzigen Maschine um 19 Uhr nach Stuttgart. Auf dem Flight-Radar des Handys konnten wir sie in der Luft verfolgen. Wie dankbar waren wir, als sie pünktlich in Stuttgart gelandet ist. Müde und erfüllt schlief sie zu Hause ein. Keine Sekunde der letzten fünf Tage hat sie vermissen wollen. Unsere Botschaft auf dem Handy sollte ein dickes, wohlverdientes Lob sein: „Lea, das schriftliche Schulabitur liegt ganz bestimmt mt Erfolg hinter dir. Was du am Abreisetag bewältigt hast, war ein richtiges Lebensabitur.“ Dass Dinge anders kommen als erwartet, dass man manchmal ungewollt warten und Spannungen aushalten muss – das ist wie eine wichtige Lebensbewährungsprobe. Und wie gut, den himmlischen Vater als Reisebegleiter zu haben!

Gerdi Stoll ist Autorin und Referentin, ihr Mann Claus-Dieter Stoll ist Dekan im Ruhestand. Die beiden haben elf Enkel und leben in Mötzingen bei Stuttgart.