Anerkennung ist das A und O

Wer Enkel hat, weiß: Bei Jugendlichen spielt sich ein großer Teil ihres Lebens im Internet ab – in verschiedenen Sozialen Medien. Ist das ein Grund zur Sorge, weil sie in dieser Scheinwelt versinken könnten? Luitgardis Parasie informiert und erklärt, was Großeltern tun können.

Wenn ich mit der 14-jährigen Mira über Soziale Medien rede, kommt es mir vor als spräche sie chinesisch. Da wird gechattet1, gesnappt2, gelikt3, man trifft sich in Fandoms4 und Communitys5. Mira, die Tochter meiner Freundin, ist auf vielen Kanälen unterwegs: Etwa auf Wattpad6 für Fan-Fiction. Da können die User7 auch selbst ein Buch schreiben. Mira folgt8 zudem einem Harry-Potter-Spiel. Und sie gehört zum Fandom von Harry Potter – also zur Fangruppe. Außerdem ist sie bei Whatsapp9, Instagram10, Pinterest11, Snapchat2, TikTok12 und Twitter13 angemeldet, wie ihre Freundinnen. Sie stellen Kurzfilme und Fotos online, kommentieren, verabreden sich und chatten per Whats-App parallel zum Online-Unterricht.

Geschönte Profile in Sozialen Medien?

Mir brummt der Kopf. Das geht weit über meine Erfahrungen mit meinem Instagram-Kanal luilacht hinaus. Anfangs wusste ich nichts. Was ist ein „Feed“14, eine „Story“15, und was bitte heißt: „Link in der Bio“16? Anleitungen, wie man zum Beispiel seine Fotos verbessert, sind für mich bis heute unverständlich. Mira dagegen beherrscht die Mixtur aus Englisch und Phantasiesprache mühelos. Switcht17 auf ihrem iPad18 von einem Format zum anderen, hinterlässt überall ein paar Likes3.

Zeigen sich Menschen auf den Sozialen Medien von einer geschönten Seite? „Im realen Leben tragen doch auch viele eine Maske“, sagt Mira. „Ich finde, in den Communitys und Fandoms sind die Leute eher sie selbst. Da kann ich ehrlich sein. Fühle mich geschützt, verbunden durch die gleichen Interessen.“

Reale und virtuelle Welt

Der Hirnforscher Manfred Spitzer meint, dass digitale Medien vor allem bei Kindern zu Aufmerksamkeitsstörungen führen. Smartphones19 bewirkten bei Jugendlichen zudem signifikant erhöhte Kurzsichtigkeit. Viele würden übergewichtig, weil sie sich zu wenig bewegten. Je mehr Stunden sie vor Bildschirmen verbrächten, desto weniger Zeit bleibe für reale Kontakte und desto weniger Mitgefühl entwickelten sie.

Das Netz sei allerdings für viele inzwischen ein Raum, in dem sie sich selbstverständlich aufhielten, meint der Benediktinerpater und Buchautor Maurus Runge. Wie man sich im Netz präsentiere, so sei man oft auch als Person „in echt“. Runge möchte deshalb nicht so stark zwischen virtuell und real unterscheiden.

Tatsächlich gehen bei den Jugendlichen die reale und die virtuelle Welt oft ineinander über. Sie haben viele Kontakte, etwa in der Schule oder beim Sport. Mit denen sind sie zugleich in den Sozialen Medien verbunden. Während ich mit Mira spreche, ploppen immer wieder Nachrichten ihrer Freundinnen auf ihrem iPad auf. In der Zeit des Lockdowns wurde diese Art des Kontakts noch mal wichtiger.

„Fairer als das echte Leben“

Gerade für Jugendliche, die es unter Gleichaltrigen schwer haben, können Computerspiele eine soziale Funktion haben. Das hat Moritz Becker beobachtet. Der 43-Jährige ist Sozialarbeiter bei smiley e. V., einem Verein, der Schulungen für Medienkompetenz gibt. Ein Schüler habe ihm mal gesagt: „Computerspiele sind fairer als das echte Leben.“ Man würde ja oft aussortiert, wenn man keine angesagten Klamotten trage oder schlecht in der Schule sei. Aber im Online-Spiel, in dem die Teilnehmenden in ihrer Rolle gemeinsam etwas erleben, seien alle gleich.

Becker berichtet von einem weiteren Jungen, der stark stotterte. „In der Schule wurde oft über ihn gelacht. In Online-Spielen jedoch fand er eine Gemeinschaft, in der er dazugehörte. Interessanterweise hat er dort nicht gestottert und fand sogar eine Freundin. Die Beziehung hielt dann auch in dem, was wir reales Leben nennen.“

Mehr Wertschätzung, weniger Lebenslüge

Stehen junge Menschen in Gefahr, in den Sozialen Medien falschen Idolen hinterherzujagen? Becker sagt: „Stellen Sie sich ein Mädchen vor, 13 Jahre, die Eltern trennen sich. Zu Hause wird rumgeschrien, sie hat Stress in der Schule, schläft schlecht. Sie wünscht sich Wertschätzung. Vielleicht bekommt sie diese für Selfies, also Selbstporträts, auf Instagram, genießt die Komplimente, die ihr sonst nicht wichtig gewesen wären. Das kann gefährlich werden, wenn sie auf Menschen reinfällt, die wissen, wie sie jetzt durch Komplimente manipulierbar ist. Dann verschickt sie womöglich auf Aufforderung Bilder, die sie sonst für sich behalten hätte. Deshalb: Je mehr Kinder und Jugendliche wertgeschätzt werden, desto weniger anfällig sind sie für so etwas.“ Anerkennung ist also das A und O, um Lebenslügen vorzubeugen.

Auch manche bedürftige Erwachsene auf Instagram scheinen für Lebenslügen affin zu sein. Ich wundere mich: Zehn neue Follower, also Leute, die meinem Instagram-Kanal folgen, an einem Tag. Sie sind Singles, Witwer, alleinerziehend. Sie laden Bilder von sich in markanten Posen hoch. Schicken mir Liebeserklärungen, obwohl offensichtlich ist, dass ich verheiratet bin. Etwa diese: „Woow, du siehst sehr schön und charmant aus, meine Königin. Ich liebe dieses schöne Bild von dir.“ Das schreiben sie vermutlich noch 500 anderen. Vielleicht reagieren zwei einsame Herzen darauf – und fallen auf einen Mann mit verquerem Frauenbild rein oder auf eine schmutzige Geschäftsidee.

Was können Großeltern tun?

Miras Großeltern machen aus Sicht von Hirnforscher Spitzer alles richtig. Wenn Mira und ihre jüngere Schwester dort zu Besuch sind, gilt die Regel: Am Esstisch keine Handys. Nachmittags werden zusammen Gesellschaftsspiele gespielt. Was Mira auch cool findet: Alte Fotoalben ansehen. Dann erzählen die Großeltern von früher. Und vielleicht schreibt Mira darüber ja irgendwann mal eine Geschichte auf Wattpad.

 

Luitgardis Parasie ist evangelische Pastorin im Ruhestand und Buchautorin. Sie arbeitet außerdem als Paar- und Familienberaterin.

 

1 chatten: Sich mit anderen Personen über das Handy oder den Computer schriftlich austauschen.

2 snappen: Im Netzwerk „Snapchat“ kann man seinen Freunden oder seiner Familie Fotos versenden, also snappen.

3 liken: Wer auf das Symbol „Gefällt mir“ oder „Herz“ klickt, gibt damit eine positive Rückmeldung.

4 Fandom: Fan-Gruppe

5 Community: Eine Gruppe von Internet-Nutzern, die ähnliche Interessen haben.

6 Wattpad: Hier kann man Geschichten selbst schreiben oder Geschichten anderer Nutzer lesen.

7 User: Menschen, die ein bestimmtes Internet-Angebot nutzen.

8 folgen: Wer auf Instagram immer die neusten Bilder einer bestimmten Person sehen will, kann auf das Symbol „Folgen“ klicken.

9 WhatsApp: Ein soziales Netzwerk, in dem man Fotos hochladen uns sich mit anderen Nutzern unterhalten kann.

10: Instagram: ein soziales Netzwerk, in dem man Fotos hochladen und sich mit anderen Nutzern unterhalten kann.

11 Pinterest: Eine Online-Pinnwand, auf der man Bilder und Grafiken hochlädt, die andere Nutzer sehen können.

12 TikTok: Ein Portal, auf dem man Videos hochladen und sehen kann.

13 Twitter: Hier kann man Kurznachrichten verbreiten.

14 Feed: Die Instagram-Seite einer Person, auf der alle Fotos gesammelt sind, die die Person hochgeladen hat.

15 Story: Man lädt ein Foto oder Video z. B. bei Instagram hoch, das für 24 Stunden zu sehen ist.

16 Link in der Bio: Nutzer von Instagram können sich in der sogenannten Bio kurz vorstellen und dort eine Internet-Seite angeben. Die Bio ist so etwas wie die Visitenkarte.

17 switchen: Sich verschiedene Seiten in den Sozialen Medien anschauen.

18 iPad: Ein tragbarer Computer, mit dem man auch Zugang zum Internet hat.

19 Smartphone: Ein Handy, mit dem man Zugang zum Internet hat.