Prägende Frauen mit Lebenserfahrung

Dienstag, 20.10.2015: Pünktlich um 18 Uhr trete ich meinen Freiwilligendienst in der Notunterkunft für Flüchtlinge in der westfälischen Stadt Witten an. Bei meinem Gang über das Gelände in die Küche, die sich im großen Begegnungszelt befindet, streifen viele aufmerksame und warme Blicke von bekannten Gästen und neugierige Blicke von Neuem meinen Weg. Dann ein freundliches Hallo zwischen uns Helfern, die inzwischen Freunde sind.

In der Küche stehen bereits vier Frauen mit deutlich mehr Lebenserfahrung als ich (25 Jahre alt). Ich reihe mich ein, ordne Käsescheiben hübsch auf Platten an. Immer eine linksrum, die andere rechtsrum – so sind die Scheiben nachher leichter von der Platte zu lösen. Dann decke ich sie mit Alufolie ab für die Essensausgabe später. Plötzlich greifen von links zwei Hände in „meinen Arbeitsbereich“ und die Dame spricht: „Nein, nein, du musst erst die Frischhaltefolie drüber machen, dann die Alufolie. So habe ich das gelernt!“ Ok, wird gemacht.

19 Uhr, die Essensausgabe beginnt. Ich stehe beim Brot, eine Frau links von mir teilt Gurken und Tomatenwürfel aus, rechts von mir steht Beate* (60 Jahre), die für die Frischwurst zuständig ist. Unsere Gäste, drängen schon ungeduldig vor der Theke, etwa 150 bis 200 gilt es heute zu verpflegen. Als das Essen schließlich eröffnet ist, lege ich je zwei Scheiben Brot auf den Plastikteller und reiche ihn weiter an Beate. Aber halt, nicht so schnell! Ich staune nicht schlecht: Beate klatscht nicht etwa in Großkantinen-Manier die Wurst auf den Teller. Nein, sie fragt den Gast, wie viele Scheiben er denn haben möchte (und zwar jeden Einzelnen!). Erst dann landen die Scheiben auf dem Teller. In mir türmt sich ein Gefühl von Nervosität auf, meine Füße tippeln unruhig umher, der Brot-Teller in meiner Hand ist noch immer zur rechten Seite ausgestreckt und wartet auf seinen Abnehmer. „Sieht die gute Beate denn nicht, wie viele Leute da noch warten?“, frage ich mich.

Gedanklich drücke ich kurz auf Pause: „Ok, wir jungen Erwachsenen, seien wir mal ehrlich zu uns selbst: Was geht in solchen Situationen eigentlich in uns vor? Ist es nicht allzu oft so, dass wir denken, wir würden vieles besser wissen, seien nicht auf den Rat und das Erlernte der älteren Generation angewiesen und es ginge im Leben meistens darum, schnell und produktiv zu sein?“

Aber mal andersrum gedacht: Wie cool ist es denn bitte, dass Beate jeden einzelnen Gast im Blick hat, dass sich da offensichtlich jemand Zeit nimmt, auf die persönlichen Bedürfnisse des anderen einzugehen und sich vom Gedränge und der Ungeduld in unserer Gesellschaft nicht im geringsten beeindrucken lässt – im Gegenteil: Beate macht’s so, wie sie es auf dem Herzen hat. Ich finde das stark, und möchte mir Beate zum Vorbild nehmen.

Auch heute endet die Essensausgabe pünktlich um 20 Uhr – wie jeden Abend. Alle Gäste haben ihr Essen bekommen, alle sind satt geworden. Verrückt, oder? Wir Frauen vom Verpflegungsteam haben keine Minute länger gebraucht als sonst, aber jede Minute besser investiert.

*Namen von der Redaktion verändert.