Thesen zur Demenz: Krankheit oder keine Krankheit?

Bei einer Ärztetagung vom 6. bis 7. Mai 2017 in Oberägeri (Schweiz) präsentierte Dr. Markus Müller in einem Workshop 16 Thesen zum Thema Demenz. Viele dieser Gedanken sind in den zweiteiligen Artikel „Keine Angst vor der Demenz“ eingeflossen, den Sie in LebensLauf 4/2018 und 5/2018 lesen können. Wir wollen Ihnen aber auch die grundlegenden 16 Thesen nicht vorenthalten:

„Demenz“ gehört offensichtlich zu den sensibelsten Diagnosen, die ein Mensch bekommen kann. Der Begriff löst – neben (und vielleicht als Teil) der Unfähigkeit zur Selbstbestimmung – am meisten Angst im Zusammenhang mit dem Älterwerden aus. Zahlen in der Schweiz belegen, dass jede sechste Person, in der französischsprachigen Schweiz sogar jede fünfte Person, bei der Diagnose Demenz lieber nicht mehr weiterleben möchte. (Näheres siehe François Höpflinger: www.hoepflinger.com)

Meine Erfahrung als Heimpfarrer (ursprünglich Heilpädagoge inclusive drei Jahre Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München) besteht darin, dass der Umgang mit der Diagnose Demenz / „an Demenz erkrankt“ / „Demenzkranker“ / … weder dem Betroffenen noch dem Umfeld wirklich hilft, vielmehr eine Person etikettiert, entwürdigt und „abschreibt“.
Ich empfinde es als Vorrecht, mit Ärzten und Ärztinnen zusammen die Frage eines hilfreichen Umgangs mit Menschen, bei denen man von Demenz spricht, zu stellen.

Einige Hinweise zu dem, was wir Demenz nennen:

– Demenz ist vielfältig: Wir wissen, dass es sehr unterschiedliche Formen von Demenz gibt. Die sogenannte Alzheimer-Demenz macht rund 60 % aus, die vaskuläre, gefäßbedingte Demenz ca. 15 %, Mischformen zwischen Alzheimer und vaskulärer Demenz ca. 15 %, und weitere Demenzformen, von denen es zwischen 30 und 40 gibt, ca. 10 %.

–  Definition – nach dem internationalen System zur Klassifikation von Krankheiten: „Demenz (ICD-10-Code: F00-F03) ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung.“ Der Begriff „Demenz“ stammt aus dem Lateinischen („de-mentia“) und heißt wörtlich „ohne Verstand, Denkkraft und Besonnenheit seiend“.

–  Hauptrisikofaktor ist das Alter. Je älter jemand ist, desto grösser das Risiko – mit 120 Jahren wären vermutlich restlos alle Menschen „dement“.

– Häufigkeit: In der Schweiz sollen es aktuell rund 113.000 Personen sein, in Deutschland etwa 1,6 Millionen. Im Jahr 2050 rechnet man mit rund 300.000 Personen (nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird sich die Zahl der Demenzkranken bis 2050 weltweit verdreifachen).

– Umfeld: Zwei Drittel der 2,6 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland werden zuhause betreut. 40 % der pflegenden Angehörigen „erkranken“ an Klinischer Depression oder Angstzuständen.

– Weltweit forschen rund 25.000 Wissenschaftler am Phänomen „Demenz“.

Thesen zur Demenz:

1. „Krankheit“ – es gibt unterschiedliche Verständnisweisen.

Es existieren mindestens drei Grundverständnisse von Krankheit:
– WHO 1948: „Gesundheit ist ein Zustand völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens …“. Nach dieser Umschreibung sind praktisch alle Menschen meistens krank.
– Krankheit ist eine Abweichung von Normalität und damit eine Funktionsstörung. Gesundung, damit Aufgabe des Arztberufes, heißt Behebung der Funktionsstörung. Medizin ist Reparaturwerkstatt. Was, wenn es nichts zu reparieren gibt?
– WHO 2015: Krank ist, wer seine Werte nicht leben und seine Ziele nicht erreichen kann. Krank ist, wem die Übereinstimmung mit sich selbst fehlt. Gesund sein ist ein Zustand der Übereinstimmung mit sich selbst. Ein „Kranker“ kann deshalb „gesund“ sein, auch dann, wenn das Umfeld sehr leidet und „nicht versteht“. Es könnte sein, dass „Demenz“ in sich „gesund“ ist.

Der Kranke vom Neuen Testament her (z.B. Matthäus 25,31-36) ist wörtlich der „Entwürdigte“, der „in Würde Angefochtene“, der „im Wert Herabgeminderte“. Wer sich dem Kranken in diesem Sinne zuwendet, ist der Gesegnete.

2. Der Zweck einer Diagnose ist mindestens so wichtig wie die Frage, ob eine Diagnose richtig oder falsch ist.

Jede Diagnose verfolgt einen Zweck. Die entscheidende Frage im Hinblick auf Demenz lautet: Wem dient diese Diagnose: Dem Betroffenen? Den Angehörigen? Den Pflegenden? Dem Arzt? Der Krankenkasse? Der Gesellschaft? …? Und: Wenn ja, inwiefern? Sollte es unklar bleiben, wem die Diagnose wirklich dient, oder sollten die Motive unredlich sein, sollte auf die Diagnose verzichtet werden.

3. Die Rede von „dementiellen Entwicklungen“/„dementiellen Prozessen“ genügt.

In den vergangenen Jahren haben wir gelernt, dass es nicht hilfreich ist, vom Geisteskranken, vom Psychotiker, vom Epileptiker, vom Mongoloiden … zu reden. Genauso wenig ist es hilfreich, vom „Dementen“ oder vom „Demenzkranken“ zu sprechen. Die Rede von dementieller Entwicklung oder dementiellen Prozessen bei älteren Personen erübrigt den Krankheitsbegriff.

4. Jede Person ist einzigartig und original – in jeder Person liegen Schätze/Perlen verborgen, die wichtiger sind als die äußere Funktionalität.

Jede älter werdende Person hat eine Geschichte mit guten und weniger guten Erfahrungen. Originalität / Persönlichkeitsschätze können zugeschüttet, missachtet und vernachlässigt sein. Dies aber sagt nicht, dass eine Person diese Schätze nicht in sich trägt. Der beste Beweis für verborgen Gesundes ist das, was man „terminale“ oder „finale Geistesklarheit“ nennt. Das Problem besteht in unserem Sehunvermögen / unserer Blindheit, die als solche möglicherweise Züge von Krankhaftem aufweist.

5. Es gibt „eine gesunde Persönlichkeit in dementieller Entwicklung“.

Es gehört zu unserer Kultur, dass wir uns mit viel Engagement am Schwierigen, Problematischen, Notvollen, Kranken … orientieren, das es dann zu beseitigen gilt. Wesentlich hilfreicher für Betroffene wie auch für ihr Umfeld ist das immer vorhandene Gesunde, das es zu achten und zu fördern gilt. Der Begriff „Salutogenese“ (anstelle von Pathogenese) empfiehlt sich speziell bei Personen in dementiellen Entwicklungen.

6. Eine Diagnose hilft, wenn Dinge diffus-geheimnisvoll sind und geholfen werden kann, dieses Geheimnis zu lüften.

Wenn Diagnosen Geheimnisse lüften, sind sie hilfreich (Beispiel Schmerzen). Eine Diagnose, die ein Allgemeinplatz ist und gegebenenfalls nur Negatives / Abweichendes festschreibt („es ist soweit“, „jetzt hat es auch ihn erwischt“, „jetzt geht es definitiv bergab“ …) ist entwürdigend. Gegen eine genaue Abklärung, welche Unterform von dementieller Entwicklung eine Person aufweist, ist nichts einzuwenden, solange die Abklärung hilft, für die Person und für das Umfeld mehr zu verstehen (engl.: „to understand“) und geeignetere Maßnahmen anzusetzen. Dass wir und dann auch das Umfeld über Prozesse und angemessenen Umgang bestens informiert sind und sein müssen, ist selbstverständlich und hat nichts mit der Pauschaldiagnose Demenz / Demenzerkrankung zu tun.

7. Es gibt ein Glück des Vergessen-Könnens

Nicht wenig Menschen leiden nicht (nur) unter dem Vergessen, sondern dass sie nicht vergessen können: Schlimme Erfahrungen, nicht verarbeitete Erlebnisse, Scheitern im Leben … Es gibt nicht nur eine Kunst des Erinnerns, sondern auch eine Kunst des Vergessens. Dieses Loslassen gelingt dem sogenannten dementen Menschen besonders gut. Demenz könnte dann auch ein Geschenk nach sehr langem Leben sein.

8. Alter ist und bleibt ein Geheimnis

Alter ist ein Geheimnis, das wir noch längst nicht verstanden haben – geschweige denn Begleiterscheinungen wie Demenz. Zum Geheimnis gehört vor allem die Innenseite des Menschen. Wer diese Innenseite eines Menschen nicht kennt, sollte nicht versuchen, an Veränderungen der Außenseite zu wirken. Ausnahme: Wenn wir wissen, dass durch die Veränderung der Außenseite die Innenseite mehr zur Entfaltung kommen kann.

9. Begrenzung ist in dieser Schöpfung normal und selbstverständlich

Ein wesentlicher Aspekt des Geheimnisses allen irdischen Lebens besteht darin, dass es begrenzt ist. Der Tod (und seine ins Leben hineinwirkenden Stachel; siehe 1. Korinther 15,54-55) ist ein entscheidender Hinweis darauf. Wenn Leben begrenzt ist, ist auch alle Fähigkeit, alle Begabung und alles Können begrenzt. Die entscheidende, zum Frieden führende Hilfe besteht deshalb in der Hilfe zum Leben innerhalb der Begrenzung, und nicht in der Bekämpfung der Begrenzung. Grenzen sind heilsam.

10. Wirklich krankhaft ist nicht die Demenz, sondern krankhaft sind Phänomene wie Unversöhntheit, Bitterkeit, Eifersucht, Rechthaberei, …

Im täglichen Umgang mit alten Menschen erscheinen Phänomene wie Eifersucht, Bitterkeit, Unversöhntheit, Besserwisserei wesentlich krankhafter und krankmachender als beispielsweise die Abnahme geistiger / kognitiver Orientierung. Die entscheidende Frage: Wie helfen alle Bezugspersonen, dass diese eigentlich krankmachenden Phänomene, die auch in dementielle Prozesse hineinwirken, zur Sprache kommen?

11. Alter ist nicht einfach Alter – es enthält Phasen und beinhaltet Prozesse

Altsein hat einen eigenen Wert mit je eigenen Maßstäben in unterschiedlichen Altersphasen. Es gibt mindestens vier Phasen in der zweiten Lebenshälfte (siehe Paul Tournier, Romano Guardini, Fritz Künkel u.a.): Der reife Mensch (bis 50/60) – Der weise Mensch (bis 70/80) – Der erfüllte (hochbetagte) Mensch (80+) – Der hinnehmende Mensch (in Abhängigkeit). Jede Phase hat ihre „Normalitäten“ und Gesundheiten, analog den Phasen des Kleinkindes. Gian Borasio als führender Palliativmediziner spricht vom „Liebevollen Unterlassen“ bestimmter Diagnosen und Therapien.

12. Jede Zeit hat ihre Krankheit – aktuell Demenz als Ausstieg aus der Wirklichkeit!

Demenz gilt als „neue Geißel der Menschheit“, als „Volkskrankheit“, als „Menschheitsplage“. Gemeinsame Merkmale der „Demenz“ und unserer Gesellschaft sind: Wir schaffen die Geschichte ab (Vergangenheit und Zukunft) und leben exklusiv in der Gegenwart – Beziehungen werden leer – wir sind vertraut mit Zuständen wie: desorientiert, zeit- und ziellos, individualisiert, selbstbezogen … Das Mittelalter hatte die „Schwarze Pest“ (an ihr starben in den Jahren 1347-1352 rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung). Woran krankt unsere Zeit? Könnte es sein, dass „Demenz“ uns einen Spiegel vorhält, den wir nicht ertragen und Demenz deshalb „weg-etiquettieren“?

13. Es gibt eine Analogie zwischen Demenz und Sterbehilfe: Beides ist Ausstieg aus der Wirklichkeit – beides hat mit der Wirklichkeit abgeschlossen.

Bei der Diagnose Demenz wie bei der Sterbehilfe hilft das Umfeld: Einmal durch eine festschreibende Diagnose, das andere Mal durch einen sofort wirkenden Trunk. Beide Male geht es um eine Überforderung durch die aktuelle Lebenssituation, und beide Male scheint ein Ausstieg das „Unvermeidliche“ und „Beste“ zu sein, das wir fördern. Schlussfolgerung: Wir lassen ab von diesem „Todesurteil Demenz“ und betonen / sehen umso mehr und deutlicher das Gesunde einer Person, die von dementiellen Prozessen gekennzeichnet ist – Wir lassen die Person nicht gehen.

14. Jeder Berufsstand – auch derjenige des Arztes – deutet nach seinem Denkmuster

Völlig zu Recht entstand im Laufe der Jahrhunderte eine Medizin, die Not lindert, Leid bekämpft und Schmerzen entgegenwirkt. Störendes im Leben kann beseitigt werden. Endergebnis allerdings: Nicht nur Demenz wird als Funktionsstörung und Krankheit bezeichnet, sondern am Schluss auch das Alter (siehe den Britischen Bio-Gerontologe Aubrey de Grey in Curaviva 1/2016: „Die Krankheit Alter“ ist zu besiegen). Es wäre gewinnbringender und heilsamer, wenn ein Arzt sich als Lebensliebhaber (damit Grenzenbejaher) versteht statt als Funktionshersteller der Außenseite des Lebens. Dies wäre hilfreiches Kontrastprogramm in heutiger Zeit und hätte weitreichende Folgen für Menschen in dementiellen Prozessen. Sie nämlich wären dann „normal“.

15. Auch im Arztberuf ist Nicht-Wissen und Nicht-Können erlaubt

Die Moderne (Neuzeit) kennt ein absolutes Verbot: Ratlosigkeit, Ohnmacht, Nicht-Wissen und Nicht-Können. Könnte es sein, dass deshalb „22.000 Demente in der Schweiz unnötig ruhiggestellt werden“ (so Albert Wettstein, ehemaliger Zürcher Stadtarzt, beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) vom 21.12.2016). Wenn Demenz solche Folgen hat, ist es bedeutend hilfreicher, als Arzt ein Nicht-Wissen und ein Nicht-Können einzugestehen als ein solches „Todesurteil“ zu fällen. Möglicherweise könnte es die Ärzteschaft vermeiden, in ein analoges gesellschaftliches Negativmuster zu kommen wie die Wirtschaftler seit 2008 („Sie bereichern sich nur selbst!“) und die Politiker seit 2015 („Die leben alle in einer Eigenwelt.“). Demenz darf kein Betätigungsfeld sein, in dem es Ärzten nur / vor allem darum geht zu bestätigen, dass sie nicht ohnmächtig sind.

16. Wo wir sind, sind Orte des Lebens – Orte der Hoffnung, der Wahrheit und der Barmherzigkeit

In der ausgehenden Moderne ist es entscheidend wichtig, Leben (nicht nur krankhaftes Leben) ganz neu im Blickfeld zu haben. Gerade dort, wo viel gestorben wird, muss das Leben aufleuchten. Biblisch gesehen gilt: Am Ende setzt nicht der Tod dem Leben ein Ende, sondern das Leben dem Tod. Dieses Leben darf gefeiert werden. Auch und gerade der sogenannte demente Mensch wird darin – im Raum des Lebens – zur Herausforderung von Wert-Gebung und Würde-Vermittlung.

Dr. Markus Müller ist Heimpfarrer in der Heimstätte Rämismühle, einem Alters- und Pflegeheim bei Winterthur (Kanton Zürich). Zur Vertiefung sei auf das Buch „Lebensplanung für Fortgeschrittene – Wie wir älter werden wollen“ hingewiesen (Verlag scm, zweite Auflage 2018).